Mittwoch, Juni 28, 2006

Klassenspaß, Klassenhass, Klassentreffen

Klassentreffen haben den Zweck, die bekannte Auto, Pferd, Pferdepflegerin-Nummer abzuziehen und am Ende mit dem beruhigenden Gedanken nach Haus zu gehen, dass man es doch als einziger so wirklich richtig geschafft hat.


Dachte ich.

Naja, ich bog auf den Treffpunktparkplatz ein und sammelte erste Eindrücke. Eine Gruppe in meine Richtung Schauender, dabei modisches und nicht modisches Aussehen. Begrüßungen, erst höflich kühl, dann schon etwas persönlicher bis hin zur für die uns umgebenden dörflichen Verhältnisse ungewohnt südländischen Umarmung. Da ist wohl jemand aus der großen Stadt.

Es geht zur Schule, dem Ort, an dem ich zum ersten Mal sah, wie man von einem Erwachsenen das Kinn verdreht bekam und wo die Schaltkreise im Werkunterricht auf diese Lochplatten gesteckt werden mußten. Der erste Eindruck heute war schlecht und änderte sich nicht bis er zum letzten wurde.

Die erdrückende Übermacht des Schriftzugs (früher „P) OS Juri Gagarin“ über das winzige Schild „Sekundarschule Heimatdorf“ wurde nicht im mindesten durch das lose Umherbaumeln einzelner Gagarinscher Buchstaben geschmälert auch nicht dadurch, dass einige Luftballonbefestigungsbindfäden von vergangenen letzten Schultagen am alten Namen der Schule hin und her hingen. Der Hausmeister hatte wohl seinen Fernsehabend unterbrochen, für 10 Minuten hatte er sich gedacht. Nicht zu machen mit klassentreffenden Nostalgikern, die jeden Raum nebst Mobiliar zu inspizieren meinen mußten. Einige von ihnen meinten, einige mußten.

Mein Eindruck: Fenster. Fenster, deren Zustand Zweifel an der Ernsthaftigkeit von Bildungspolitik nicht nur aufkommen ließen. Fenster durch die man zwar blicken konnte, die aber eigentlich nur Zeitschleusen sind. Und das Ziel der Zeitschleuse ist durch die verrotteten Fensterrahmen vorgezeichnet. Vergangenheit. Past. Früher.

Und dann läuft der Klassenspaß doch scheinbar auf der vorgezeichneten Linie. Jeder sollte doch mal kurz erzählen was er so gemacht hat und jetzt macht. Tolle Idee. Fang Du an Klassenlehrer. Kurz. Kurz! Ziel verfehlt. Okay, die Anforderungen an den Englischgebenden Lehrer am Gymnasium („Sekundarstufe 2“) waren höher als Du dachtest. Du hast sie mit Kursen an allen noch so unwirtlichen und abgelegenen Orten dieser Welt wie Florida und New South Wales zu erfüllen gesucht und dieses selbstlose Ansinnen nicht mal vom Fiskus anerkannt bekommen (Weil man nicht ausschließen könnte, daß du zwischendurch mal baden warst, sagst Du). Was ist das doch für ein Staat. Aber Du bist doch immer noch der höchst plazierte ostdeutsche Seniorenspieler der Tennis-Weltrangliste (sagst Du wenigstens), das ist doch was. Und deswegen fährst Du nach dem Klassenspass morgen direkt nach Malle zu den Mallorca Open.

Und Deine Frau, die Du und die Schüler der Zeitschleusenschule zum zeitweiligen Aufenthalt in der Psychatrie bewogen, packt zu Haus gerade Deine und ihre Koffer. Und im Amazonasdelta werden Lianen abgewickelt. Na klar. Und an allem sind die Verhältnisse, die modernen Zeiten in diesem Staat schuld.

Paul ist damals sitzengeblieben und war dann in der Klasse meiner Schwester. Ist jedesmal rot geworden, wenn sie ihn angesprochen hat, sagt sie. Heute ist er immer noch ruhig, hat schon graue Haare, hat eine echt angenehme Art und einen leisen Humor, der zu den grauen Haaren paßt, weil der auch so was Spöttisches hat. Ein Metallbauer, der’s mal länger beim Bund probiert hat, für den das aber nichts war. Down to earth.

Tanja, die zweite Freundin meines Lebens ist einfach ein optischer Schock. Es liegt überhaupt gar nicht an Ihrer Art oder ihrem Humor (der so wie bei einem überraschend hohen Anteil der Leute heute abend eindeutige Züge von Sarkasmus trägt). Sie ist einfach schwer geworden. Schätze mal so knapp 90 bis 100 Einheiten auf der Waageskala. Was sie trotzdem wohl in ihrer Physiotherapeutenkarriere ganz nach vorn brachte, wenn man ihre Knetfähigkeiten realistisch abschätzt. Hatte mir überlegt, da mal hinzugehen, um mir meine dringende Massagebedürftigkeit wegmassieren zu lassen. Doch dann verfolgte ich den Gedanken nicht weiter, denn obwohl ich ihr entsprechende Fähigkeiten auf jeden Fall zubilligte, wäre es nicht möglich, die notwendige Fremdheit aufzubringen, um die entsprechende Nähe verkraften zu können. Das ist in keinster Weise sexuell gemeint, sondern lediglich durch den Gewichtsschock begründet. Wie sollte es da auch vorher Nähe gegeben haben in der vierten Klasse.

Mario war mein bester Freund. Nicht wie im Film durch dick und dünn, mehr eine Art Interessengemeinschaft, wobei ich in den meisten Sachen eine interne Führungsrolle hatte – Fußball, Musik. Außer beim Thema Pferde, wo man einfach nicht an der Spitze steht, wenn man keins hat. Er ist der solide Typ auf Abwegen: Sparkassenausbildung, dann in der Harzer Innenrevision dieses Instituts, jetzt am sich Weiterbilden mit Gedanken zum anschließenden Wegstehlen in die Leipziger Urbanität der frisch aufgetanen Liebe. Noch immer starker Hang zum ländlichen Bereich, manifestiert durch die Teilnahme an diversen Skatturnieren der näheren Umgebung und durch die Kenntnis fast aller uns am heutigen Tag auf der Straße begegneten Größen des dörflichen Lebens.

Trotzdem hat er einen Hang zum Aussprechen dessen, was ich mir in Vorbereitung des heutigen Abends selbst von mir verbeten hatte.
Ich werde heute nicht mit unterschwelligen Sarkasmen glänzen und mich darin sonnen oder darüber ärgern, dass niemand lacht. Ich werde keine flachen Kalauer werfen, die unbedacht Wehrlose und unverschuldet ins Abseits Geratene angreifen.“

Mit diesen beschwörerischen Sätzen hatte Mario sich heute nicht vorbereitet oder er hatte es verdrängt. Er war mir innerhalb von Minuten wieder so sympathisch, weil er seine Vorbereitung weniger intensiv und nachhaltig betrieben hatte als ich. Unterstützung durch einen mittels ähnlichen Eigenschaften Geprüften und Prüfenden findet er in Marco. Dessen angehender Bierbauch hindert ihn offensichtlich nicht an seiner Arbeit bei der VW-Bank, die ihn zudem mit aktuellen Neuwagen zu günstigen Mitarbeiterpreisen versorgt. Und das Blatt vor dem Mund muß im Herbst welk zu Boden gefallen sein. Mehrmals kommt das Wort „Pleitenprinz“ nicht verhalten über seine Lippen, als Kolja in des Lehrers Klagelied von der Schlechtigkeit der Zeiten anstimmt.

Kolja, dessen Vater das lokale Autohaus der Wolfsburger Schmiede trotz Benutzung von Schwarzarbeit, eigener Frau und anderer äußerster Mittel in die Kummerzone ritt. Kolja, der dann unbescholten selbiges kaufte und mit Geschäftsprinzipien ähnlich dem Altvorderen derzeit dem Staat die Schuld an seiner Lage zuschiebt. Bei Erwähnung der Messe der Meister von morgen Bewegung bekommt Kolja ebenfalls von Marco die Tatsache per Doublette an den Kopf geschmettert, dass der damals von ihm ausgestellte Traktor von seinem Vatersmann erdacht und erschaffen wurde. Kein HinterdemBergHalter, der Marco. Nicht wie ich.

Aber ein NichtHinterdemBergHalter wie manchmal auch der Lehrer dieser Klasse: Liliane (Meine Schwester fragte: “Hat sie immer noch dieses tumbe Gesicht?“, „Mmmmh, ja würde ich schon sagen.“) nutzte ihre Erzieherinnen-Ausbildung zur Jobergreifung in einem Heim für geistig Behinderte in Regensburg, wo sie für eine Gruppe von jungen Knaben zwischen 15 und 38 verantwortlich ist. Und wo sie seit ein paar Jahren auch mit jemandem zusammenwohnt. –„Was denn, mit jemandem aus der Gruppe?“ Fragen, die man als Lehrer nicht stellen sollte, weil man eventuell irgendwann in der Zeitung das Wort Takt las, es nachschlug und fortan wußte, was sich gehört und nicht nur was dringend benötigte billige Lacher erzeugt. Liliane trägt ein Dirndl in einer Art, wie es selbst im katholischen Regensburg als extremst konservativ gelten würde und Regensburg ist nicht Amsterdam. Ich stelle mir vor, wie sie in Vorbereitung des Klassenspass’ überlegt hatte, wie sie in Abwesenheit spektakulärer persönlicher Geschichten trotzdem verdammt in sein könnte. Dann kam ihr zuerst die Idee mit dem weitesten Anfahrtsweg („Joa mei, den hab ich.“) und dann die mit dem Most Hardcore Dirndl. Beide waren keine implizierten Kracher.

Lara war einer. Sie war noch keiner, als sie bei der Erstklassenumfrage der Hortnerin nach dem Wunschfreund mich ankreuzte. Sie war einer, als sie in der siebten Klasse anfing, Handball zu spielen und der Wortgruppe „aussehen wie Lara V.“ eine erste Bedeutung verlieh. Dazu gehörten Make-up, wilde Wellen in den Haaren und blitzende Augen. Traumvorstellungen von Schulsporthandballern beinhalteten, wie Lara aus Sicht des Torhüters unaufhaltsam die Verteidiger(-innen) umdribbelnd auf das Tor zugelaufen kommt, den Ball noch dreimal auftippt und dann aus dem Sprungwurf versenkt. Das ganze spielte sich natürlich mit dem zugehörigen Ensemble von wehenden Haaren, (wieder) blitzenden Augen und einer Lara in vollster Ausprägung ab. Kracher auch später, als ich die grundlegenden Goes und No Goes des Tanzens an Ihrer Tanzstundenseite gelehrt bekam. Temporär gestorben, als mich in Sachen Abschlußballpartnerwahl eine negative Entscheidung traf. Wohl kein öffentlicher Kracher nun mehr, in Zeiten von Mann, Kind und Doppelhaushälfte. Kracher aber doch, weil erstens Physiotherapeutin (und hier ohne den Waageskalenschock) und zweitens ab November dabei selbständig (und nach ausführlichem Gespräch als überlegt und vernünftig eingeschätzt).

Bleibt Jennifer/Jenni, die aus heutiger Sicht eine vielleicht vorhersehbare Entwicklung nahm, aus Siebenteklassensicht aber sicherlich überrascht. Stuttgarter Jugendamt für Problemkinder nach Sozialpädagogik-Studium. Vorhersehbar für eine Freundschaftsratsvorsitzende? Kann sein, wobei sie in meinen Augen auf der Washabichgeschafft-Skala weit im Vorderfeld liegt.

Die Anwendung von Auto-, Pferd- und Pferdepflegerinnenkriterien verbittet sich hier natürlich, aber die hätte ich eh nie angewandt. Vielleicht macht auch die Washabichgeschafft-Skala keinen Sinn oder die Erwartung, daß man von anderen auf so einem Klassenspaß an der Skala gemessen wird. Auch so wird die Vorstellungskraft immer genügend Vorurteile und negative Erwartungen an ein Klassentreffen bereitstellen.

Diesmal waren sie zu einem großen Teil revidierbar.

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